Taiwan gehört der Welt: Ein Nachruf auf Fan Chou 范疇 (1955–2023)
Vorabveröffentlichung aus ASIEN 166/167
Am Abend des 29. November 2014 stand ich vor der Schnellbahnstation in Tamsui, nördlich von Taipeh, und wartete. Der Bekannte, mit dem ich verabredet war, verspätete sich, und zwar erheblich. Nach einer halben Stunde versuchte ich zum ersten Mal, ihn anzurufen, nach weiteren dreißig Minuten nochmals, und nach anderthalb Stunden fuhr ich schließlich wieder nach Hause. Es war Wahlabend, und der Chirurg Ko Wen-je 柯文哲 hatte soeben den Kampf um das Amt des Bürgermeisters von Taipeh gewonnen. Genau über diesen erstaunlichen und politisch überaus bedeutsamen Vorgang (vgl. ASIEN Nr. 139 vom April 2016) hatte ich mit meinem Bekannten sprechen wollen. Am nächsten Morgen klingelte das Telefon, und mein Bekannter entschuldigte sich vielmals, mich versetzt zu haben – aber seine Erklärung war nachvollziehbar. Er war nämlich in den Wochen vor der Wahl ununterbrochen auf Achse gewesen, jeden Tag kreuz und quer durch Taipeh, um überall dort Vorträge zu halten, wo er hoffte, junge Wähler erreichen zu können: in Buchhandlungen, Cafés, Bars, Galerien, einige Male sogar in Restaurants. Bei jeder seiner Reden – meist waren es mehrere pro Tag – hielt er zunächst ein flammendes Plädoyer für den Kandidaten Ko, endete aber stets mit dem Hinweis: „Vielleicht, liebe Zuhörer, stimmen Sie mit meinen Ansichten überhaupt nicht überein. Das macht aber nichts, denn mein eigentliches Anliegen ist Folgendes: Gehen Sie wählen! Machen Sie von Ihrem Recht Gebrauch! Nehmen Sie Ihre Chance wahr, Taiwans Zukunft mitzugestalten!“ Innerhalb weniger Wochen hatte mein Bekannter diesen Appell unzählige Male an sein Publikum gerichtet – und sich dabei völlig verausgabt. So ergab es sich, dass er am Vorabend der Wahl, besser gesagt: in der letzten Nacht vor der Wahl erst morgens um vier Uhr nach Hause kam, wo er sich erst einmal kurz hinlegte. „Und dann habe ich doch tatsächlich den kompletten Tag verpennt! Ich bin erst wieder aufgewacht, als die Wahllokale schon längst wieder geschlossen waren! Das darf echt nicht wahr sein“, sagte er mir am Telefon, während er sich vor Lachen ausschüttete, und ich ‚tröstete‘ ihn mit der Vermutung, dass – dank seiner unermüdlichen Arbeit der vorangegangenen Wochen – er wahrscheinlich der einzige Mensch in ganz Taipeh gewesen sei, der seine Stimme nicht abgegeben habe.
Der Name meines Bekannten lautete Fan Chou (zumindest als Publizist, sein eigentlicher Name lautete Chou Chung-keng 周仲庚; Ausländern gegenüber nannte er sich Kenneth C. Fan).[1] 1955 geboren, wuchs er in Taiwan und Singapur auf. Er studierte Philosophie an der Nationaluniversität in Taiwan 國立台灣大學 und an der Columbia-Universität, wandte sich dann aber dem Geschäftsleben zu und gründete bzw. leitete mehrere Unternehmen – zunächst in den USA, später auch in China; dabei betätigte er sich meist in den Branchen Technik und Computersoftware. In der Nähe von Peking besaß er zeitweise ein Grundstück und ein Haus, was er aber beides wieder verkaufte, als er sich entschloss, nach über drei Jahrzehnten wieder nach Taiwan zurückzukehren.
Hier begann er nun eine zweite Karriere als Publizist und politischer Berater. Für beide Aufgaben war er hervorragend geeignet, denn neben einer rhetorischen Begabung verfügte er auch über ein enormes Wissen, eine rastlose Wissbegier und einen reichen Erfahrungsschatz sowie – aufgrund seiner langen Auslandserfahrung – über einen ganz anderen Blickwinkel als die meisten seiner Landsleute. Schon dass er sich auf Englisch ebenso flüssig, exakt und humorvoll ausdrücken konnte wie auf Mandarin, hob ihn aus der Masse der politischen Kommentatoren hervor. Klein von Statur, aber immer voller Energie, verfügte er auch über eine mitreißende Bühnenpräsenz. Dass er nie einer Partei angehörte, verlieh ihm in den Augen vieler Taiwaner noch mehr Glaubwürdigkeit und sorgte außerdem dafür, dass er Veränderungen der politischen Lage unvoreingenommener erkennen konnte.
Ab 2009 veröffentlichte Fan Chou mit zunehmender Regelmäßigkeit Artikel in der Wirtschaftszeitung 經濟日報, später auch in der Apple Daily 蘋果日報, der Woche 今週刊 und in diversen Medien des Hongkonger Finanznachrichten-Konsortiums 財訊. Seine frühen Artikel fasste er Ende 2011 zu seinem ersten Buch zusammen, das allein schon aufgrund seines trefflichen Titels Wem gehört Taiwan? 台灣是誰的? Aufmerksamkeit erregte und für das sich laut Fan Chou sogar das Politbüro der KPCh interessierte.[2] Die Frage, die der Titel seines ersten Buches stellte, beantwortete übrigens schon dessen dritte Seite auf elegante Weise: „Taiwan gehört der Welt“.
In den nächsten vier Jahren folgten sechs weitere Bände, von denen sich Wird Taiwan sterben? 台灣會不會死? laut Fan Chou am schlechtesten verkaufte – wahrscheinlich, wie er vermutete, aufgrund seines pessimistisch klingenden Titels. Sein Buch Die große Panne 大拋錨 von 2012, das sich mit dem tiefen Fall Bo Xilais befasste, war keine Artikelsammlung mehr, sondern ein durchkomponiertes Werk, das noch mehr als sein Vorgänger Wem gehört China? 中國是誰的? von der tiefen Vertrautheit des Autors mit den politischen Zuständen im Nachbarland zeugte.
Das Buch Ein Gespräch mit Xi Jinping über Taiwan und China 與習近平聊聊台灣和中國 aus dem Jahr 2015 markiert einen Wendepunkt in seinem Schaffen, denn bis hierher waren seine Aufsätze von der Idee geprägt, dass man sich irgendwie doch noch auf friedliche, rationale Weise mit der kommunistischen Führung Chinas über die Zukunft Taiwans einigen könne. Nun gestand er sich jedoch ein, dass der neue ‚Starke Mann‘ an der Spitze des Nachbarlandes an Gesprächen gleich welcher Art gar nicht mehr interessiert war. Dadurch änderte sich nicht nur Fan Chous Einstellung zu China, sondern auch seine publizistische Tätigkeit wurde zusehends in Mitleidenschaft gezogen – immer mehr seiner chinesischen Freunde und Bekannten (manche von ihnen politische Funktionsträger) zogen sich zurück oder brachen den Kontakt mit ihm ganz ab. All dies trug dazu bei, dass eine geplante Teilübersetzung des Buches ins Deutsche nicht mehr zustande kam.
Vor wenigen Jahren gründete Fan Chou die Website „Vorschau-Vorposten 范疇前哨預策營, die den englischen Nebentitel „Indo-Pacific Risk Forecast Centre“ trägt.[3] Sie ist derzeit noch aktiv und wird von einem seiner Freunde betreut.
Wenn ich mich recht erinnere, getraute Fan sich ab 2016 nicht mehr, nach China zu reisen, und ab 2019 hielt er sich auch von Hongkong fern. Parallel dazu entfremdete er sich auch Ko Wen-je immer mehr, dessen zunehmende Nähe zu China ihn zutiefst beunruhigte (die taiwanische Öffentlichkeit erregt sich oft über Kos abschätzige Äußerungen über Frauen, seinen elitären Hochmut und sein undiplomatisches Verhalten – alles unschön genug, aber letztlich doch vernachlässigbar im Vergleich dazu, dass er offenbar beabsichtigt, der gebürtigen Chinesin Xu Chunying 徐春莺, die sich ganz im Sinne der KP patriotisch-großchinesisch äußert, einen Sitz im taiwanischen Parlament zu verschaffen).[4]
Der Titel von Fan Chous vorletztem Buch – Der aufgezwungene Krieg: Ist Taiwan gut vorbereitet? 被迫一戰: 台灣準備好了嗎? (2021) – beweist sein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber der KP. Die Initiative des taiwanischen Unternehmers Robert Tsao 曹興誠 nach Beginn des Ukrainekrieges zur Stärkung der taiwanischen Wehrfähigkeit begrüßte Fan Chou begeistert, und er beteiligte sich auch aktiv daran, indem er die Bildung eines ganz Taiwan umspannenden, aber schwerpunktmäßig lokal organisierten Netzwerks von freiwilligen Heimatschutzeinheiten aktiv unterstützte.
Wie um Fans schlimmste Befürchtungen noch zu befeuern, verschwand im März 2023 sein Verleger Li Yan-ho 李延賀, besser bekannt als Fucha oder Fu Cha 富察. Li ist gebürtiger Chinese und Leiter des Gusa-Verlages 八旗文化, in dem Fan Chou alle seine Bücher veröffentlichte (insgesamt waren es zehn). Li reiste Anfang des Jahres nach Shanghai, um dort seine Staatsbürgerschaft und seinen Pass offiziell abzugeben, wurde dabei aber festgenommen. Erst im April wurde seine Familie darüber informiert, dass dem Verleger eine Gefährdung der Staatssicherheit vorgeworfen werde. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen mehr von ihm. Es ist überaus traurig, dass die beiden guten Freunde Fan und Li sich nicht mehr wiedersehen werden, selbst wenn Li irgendwann entlassen werden sollte. Es bleibt zu hoffen, dass seine taiwanischen Freunde und Kollegen sich weiter für seine Freilassung engagieren.
Erfahrungen wie diese dürften auch dafür gesorgt haben, dass Fan Chou in seinen letzten Artikeln einen immer härteren Ton gegenüber China anschlug und immer deutlicher vor den Gefahren warnte, die von der Kommunistischen Partei Chinas ausgehen, und zwar nicht nur für Taiwan; ein Leserbrief an die englischsprachige Website „Taiwan News“ ist ein beredtes Beispiel dafür.[5] Gleichzeitig ignorierte er jedoch nie die innertaiwanischen Probleme – die fortwährende Anfälligkeit des Wahlsystems für Korruption, gerade auf der lokalen Ebene; die viel zu schleppende offizielle Aufarbeitung der KMT-Diktatur; die Neigung vieler Taiwaner zum Rückzug ins Private (im Mandarin mit „sein kleines Leben leben 過小日子“ bezeichnet); das frappante Desinteresse vieler Taiwaner nicht nur an der ‚großen Politik‘ allgemein, sondern vor allem an den politischen Strukturen und Geschehnissen in China; auch die fehlenden Fremdsprachenkenntnisse vieler seiner Landsleute beunruhigten ihn tief.
Am 6. November 2023, als er in den frühen Morgenstunden die Nachrichten im Fernsehen schaute, brach er aufgrund einer akuten Herz-Kreislauf-Erkrankung zusammen. Ganz unvermittelt kam dieser Tod allerdings nicht, denn in den vergangenen Jahren hatte er immer wieder gesundheitliche Probleme, die wahrscheinlich zumindest teilweise auf seinen nicht sehr gesunden Lebenswandel zurückzuführen waren: Nicht nur, dass er wie besessen arbeitete und teilweise ganze Nächte hindurch schrieb, er war überdies auch noch ein starker Raucher. Größere Eingriffe wie etwa die erst vor wenigen Monaten erfolgte Augenoperation dürften seine Konstitution noch zusätzlich angegriffen haben. Es ist eine etwas bittere Ironie, dass sein letzter Artikel vom 2. November die Gerüchte um den Tod Li Keqiangs behandelte,[6] der an derselben Ursache verstorben sein soll wie Fan Chou nur wenige Tage später. Aber Fan war jemand, der viel Sinn für Ironie und sogar für Schwarzen Humor hatte – ich bin mir daher ziemlich sicher, dass dieser Zufall ihn selber amüsiert hätte.
Taiwan hat einen großen Intellektuellen und wichtigen Berater verloren, einen unermüdlichen Kämpfer für die Demokratie; sein plötzlicher Tod wurde in taiwanischen Medien ausführlich betrauert.[7] Ich dagegen habe nicht nur einen wundervollen Gesprächspartner und einen großartigen Erklärer taiwanischer Zustände verloren, sondern vor allem einen sehr guten Freund.
Thilo Diefenbach, 24.11.2023
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Normalerweise benutze ich für taiwanische Namen die Wade-Giles-Umschrift, müsste den Namen also „Fan Ch’ou“ transkribieren. In seinem Fall orientiere ich mich jedoch an der Umschrift, die er selber benutzte. ↑
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Eine deutsche Fassung von Peter Busch, die ca. zwei Drittel der Texte des Originals enthält, erschien 2014. Busch hat in ASIEN noch weitere Beiträge zu Fan Chou vorgelegt, etwa „Vier Betrachtungen zum Treffen zwischen Xi Jinping und Ma Ying-jeou“ in Nr. 141 (Oktober 2016) oder eine Rezension von Fan Chous Buch „2022 – 台灣最後的機會窗口 [2022: Taiwans letzte Chance]“ in Nr. 156/157 vom Juli/Oktober 2020. ↑
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Letztlich lehnte Xu das Angebot aber ab. Stattdessen kam Li Zhenxiu 李贞秀, ebenfalls eine in Taiwan lebende Chinesin, auf die Liste der Kandidaten von Kos Partei für das Parlament. Nähere Informationen zu diesem Fall vgl.
https://www.taiwannews.com.tw/en/news/5028472;
https://bnn.network/politics/controversy-surrounds-taiwans-peoples-party-candidate-xu-chunying/;
https://www.taipeitimes.com/News/taiwan/archives/2023/11/09/2003808923;
https://www.taipeitimes.com/News/taiwan/archives/2023/11/24/2003809641. ↑
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Hier als Beispiel zwei englischsprachige Nachrufe:
https://www.taipeitimes.com/News/editorials/archives/2023/11/10/2003808940;