Die Diskussion um die moralische Positionierung der deutschen Sinologie – von Taiwan aus betrachtet. Ein Kommentar zur Ausgabe Nr. 32 der minima sinica
Vorabveröffentlichung aus ASIEN 162/163
Rubrik: Forschung und Lehre
Autor: Thilo Diefenbach
Einleitung
Im Frühjahr 2022 widerfuhr der deutschen Sinologie die Ehre, gleich zweimal prominent in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung diskutiert zu werden: Am 9. März bezogen Björn Alpermann und Gunter Schubert unter dem Titel „Gegen das moralische Kreuzrittertum“ Stellung, worauf Andreas Fulda u. a. am 16. März mit „Grenzenlos kompromissbereit?“ antwortete.[1] Gegenstand der Auseinandersetzung war die Frage, wie chinakritisch sich die deutsche Sinologie zu positionieren und zu äußern habe – und ob das überhaupt vonnöten sei. Die Untertitel der beiden Artikel umreißen die jeweiligen Standpunkte recht gut. Bei Alpermann/Schubert heißt es: „Chinaforschung ist kein politischer Aktivismus. Sie muss taktische Zugeständnisse machen, um den Weg der Erkenntnis offen zu halten. Die Konformismusvorwürfe mancher Beobachter entbehren der Grundlage.“ Und bei Fulda: „Angesichts von Xis Repressionspolitik muss die Chinaforschung ihre Rolle überdenken. Die Ausblendung von Problemen und die Stigmatisierung kritischer Stimmen sind der falsche Weg.“
Es ist nicht meine Absicht, die Diskussion an dieser Stelle direkt fortzuführen; mein Ausgangspunkt ist stattdessen Ausgabe Nr. 32 der minima sinica, die Alpermann und Schubert in ihrem Artikel erwähnen und der sie bescheinigen, bei dieser Auseinandersetzung „in Teilen ebenso einseitig zu argumentieren wie die Gegenseite.“ Diese Aussage ist ein guter Grund, sich das Heft einmal genauer anzuschauen.
Ich lese die minima sinica seit Jahren mit großem Interesse und ebenso großem Gewinn, aber der aktuelle Band – genauer gesagt, das darin enthaltene Dossier – irritiert in der Tat (Ptak und Monschein 2020).[2] Das entspricht in gewisser Weise auch dem Willen der Herausgeber, denn die Textsammlung ist als „durchaus provokative Gegenrede“ (5) zu dem in der deutschen Presse vorherrschenden Konsens gedacht. Dieser besteht nach Ansicht der beteiligten Autoren kurz gesagt darin, China pauschal zu verteufeln, den Chinesen immer nur böse Absichten zu unterstellen und keinerlei Respekt vor ihrer Kultur und ihrer Geschichte zu zeigen.
Die am Dossier beteiligten Autoren – außer den Herausgebern sind das Karl-Heinz Pohl, Hans van Ess, Mechthild Leutner und Wolfgang Kubin – beleuchten diesen Sachverhalt aus unterschiedlichen Perspektiven: Ptak und Pohl zum Beispiel versuchen die historischen Hintergründe der aktuellen Chinafeindlichkeit zu ergründen, während van Ess und Leutner die einseitige Darstellung der Hongkonger Proteste von 2019 in den deutschen Medien analysieren. Alle führen eine beeindruckende Zahl von chinakritischen Presseartikeln ins Feld, um zu belegen, dass deutsche Journalisten China weitgehend ignorant und voreingenommen gegenüberstehen.
Ich kann das Anliegen der Autoren – die ich sehr schätze – vollkommen nachvollziehen. China hat in Deutschland in der Tat eine schlechte Presse, und wer sich selber der Sinologie verschrieben hat und/oder als sinophil definiert, kann das nicht leichthin akzeptieren. Allerdings übersehen sie dabei, dass die deutschen Medien insgesamt in den letzten Jahren immer mehr zur Einstimmigkeit ebenso wie zur Einseitigkeit neigen, nicht nur beim Thema China. Man erinnere sich nur an die fast völlig kritiklose Haltung zur „Willkommenspolitik“ 2015 oder an die bemerkenswert zahme Kommentierung der erratischen Corona-Politik in Deutschland.
Es ist auch verständlich, dass die Autoren im Eifer des Gefechts gelegentlich etwas übers Ziel hinausschießen, etwa wenn die Herausgeber im Vorwort die Entsendung einer deutschen Fregatte nach Ostasien zu einer potenziellen Kriegsgefahr hochstilisieren, oder wenn Monschein die Aufhebung der Amtszeitbegrenzung durch Xi Jinping mit dem Satz kommentiert, dass er sich dabei „wohlmöglich [sic] an der deutschen Kanzlerschaft“ (128) orientiert habe (als ob es keine nennenswerten Unterschiede zwischen den politischen Systemen beider Länder gäbe). Unangenehmer ist es jedoch, dass die von der Kommunistischen Partei (KP) verbreitete Halbwahrheit, sie habe Abermillionen Chinesen aus der Armut befreit, hier völlig unkritisch wiederholt wird (35, 115) – denn man sollte nicht vergessen, dass die KP insbesondere vor 1979 Hunderte Millionen Menschen ins absolute Elend stürzte und dass sie darüber hinaus dieses tiefschwarze Kapitel ihrer Geschichte (ebenso wie viele andere) bis heute mit einem strikten Tabu belegt. Wer das im Hinterkopf hat und dann auch noch Kubins erschreckende Aussagen über die alltägliche Zensur an chinesischen Universitäten liest (189–90), auf den wirkt die nonchalante Feststellung, „vieles in China [sei] nicht perfekt“ (5), eher deplatziert. Und wenn sich die Herausgeber über die Bezeichnung „chinesisches Virus“ für Corona aufregen (8), drängt sich die sachliche Frage auf: Woher stammt es denn sonst? Und welches Land hat die den Ausbruch wochenlang zu vertuschen versucht? Und wer hat die internationalen Forschungen zum Ursprung des Virus eigentlich am meisten behindert?
Einige Autoren des Dossiers üben heftige Kritik an den USA, letztlich mit der Intention, diese als noch schurkischer als China hinzustellen. Das verwundert nicht und fällt letztlich auch nicht schwer – bei all den schweren Verfehlungen, die die US-Amerikaner in den vergangenen Jahrzehnten weltpolitisch begangen haben. Und Kubin kann man leider auch nur zustimmen, wenn er schreibt: „Als Europäer haben wir wenig Recht, uns moralisch aufzuplustern.“ (191) Von dieser Grundlage ausgehend versuchen einige Autoren allerdings, das chinesische Regime insgesamt zu verharmlosen – so verspottet beispielsweise Ptak die taiwanische Sicht auf China als Gerede vom „angeblich so üblen Festland“ (171). Man kann über viele Details dieses Dossiers trefflich streiten, aber mit diesem Satz sind wir bei dem einen Punkt angekommen, der mich bei der Lektüre überaus stört – nämlich bei der latent unfreundlichen, sogar aggressiven Haltung gegenüber Taiwan.
Wer von China spricht, kann nicht einfach verschweigen, wie massiv es Taiwan bedroht, eine Insel, die nie zur Volksrepublik gehört hat und deren Bevölkerungsmehrheit auch nicht zur Volksrepublik gehören will. Die kommunistische Führung betont dennoch unentwegt, dass die Inbesitznahme Taiwans für sie höchste Priorität habe und dass sie jederzeit bereit sei, das „Problem“ auch gewaltsam zu lösen.[3]
Pohl und Leutner ignorieren Taiwans prekäre Lage in ihren Beiträgen trotzdem so weit wie nur möglich, d. h., sie nehmen nicht zur Kenntnis, dass sich China, das dem Dossier zufolge ausschließlich auf Verständigung und friedliche Koexistenz bedacht sein soll, aus taiwanischer Sicht völlig anders darstellt. Wären die Autoren immer noch so begeistert von China, wenn die Luftraumüberwachungszone ihres Landes jeden Tag durch mehrere Rotten chinesischer Jagdflugzeuge und atomwaffenfähiger Langstreckenbomber heimgesucht würde? Oder wenn die chinesische Regierung alles unternähme, um die Lieferung von Impfstoffen nach Deutschland zu verhindern?
Auf S. 118 weist Monschein darauf hin, dass die Frau, die sich über die bei Thalia prominent präsentierten Bände von Xi Jinpings Werken aufregte, „offenbar Taiwan-Bezug“ hatte. Kann Monschein nicht nachvollziehen, dass diese Frau den Mann, der ihre Heimat unterjochen will, einfach nur verabscheut? Mit unverhohlener Empörung weist sie außerdem auf S. 110 darauf hin, dass in irgendwelchen „sozialen Medien“ Karten kursierten, auf denen China als von Taiwan besetzt dargestellt werde. Mir ist wirklich schleierhaft, wie man jeden ins Netz gestellten Blödsinn derart ernstnehmen und als Beweis für aggressive Absichten Taiwans einstufen kann.
Kubin unterstellt Taiwan und den USA, gemeinsam die Hongkonger Proteste von 2019 unterstützt und angeheizt zu haben. Sein Beleg dafür? Ein Artikel aus der South China Morning Post. Dabei gehört dieses Blatt seit 2016 dem Alibaba-Konzern und hat seitdem massiv an journalistischer Qualität verloren. Als ich 2007 in einem deutschen Büro in Peking arbeitete, wurde uns die SCMP jeden Tag geliefert – in einen blauen, blickdichten Plastiksack eingeschweißt, damit nur ja kein des Englischen mächtiger Chinese von den oft sehr kritischen Schlagzeilen aufgewiegelt werden konnte. Mittlerweile erübrigt sich diese Vorsichtsmaßnahme, denn die Zeitung unterscheidet sich nur noch in Nuancen von der Global Times. Aber auch dieses Propaganda-Sprachrohr ist laut Kubin eine „eigentlich brauchbare Tageszeitung“ (190) – ein Blatt, das zum Beispiel am 19. November 2021 schrieb, man müsse Litauen für seine „Unbotmäßigkeit“ in der Taiwan-Politik bestrafen, so wie man eine Fliege an der Wand zerquetsche.
Zum Schluss sei noch eine besonders auffällige Stelle erwähnt. Auf S. 85 schreibt Kubin: „Und wenn Taiwan sich gern als Hort von Freiheit sowie Demokratie feiern lässt, schenkt niemand seiner Vergangenheit einen Augenblick der Betrachtung.“ Ich weiß nicht, wen Kubin hier mit „niemand“ meint, aber erstens gibt es zahlreiche Bücher und Artikel zu diesem Themenbereich, im deutschen Sprachraum wie in Taiwan, und zweitens entwickeln die Taiwaner gerade eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, von der man in China nicht einmal träumen kann. Kubin fährt fort: „Zu diskutieren blieben weiterhin: der unbeendete Bürgerkrieg“ – welcher Bürgerkrieg? Die ‚Vorläufigen Bestimmungen für die Phase der Mobilisierung zur Niederschlagung der [kommunistischen] Erhebung 動員戡亂時期臨時條款‘ wurden 1991 von der Kuomintang (KMT) aufgehoben, damit war der Bürgerkrieg mit den Kommunisten einseitig beendet. Als einziger Kriegstreiber verbleibt somit die KP. Die ‚Republik China‘ ist heute nur noch eine dem taiwanischen Staat aufgezwungene Hülle. „… die Diktatur bis 1986“ – wessen Diktatur ist hier gemeint? Doch wohl die von Chinesen, genauer von der Nationalen Volkspartei Chinas 中國國民黨 installierte, unter der vor allem die gebürtigen Taiwaner zu leiden hatten. Und wieso eigentlich 1986? Die Demokratisierung Taiwans war ein längerer Prozess, der sich nicht an einem einzigen Jahr festmachen lässt. „… die ehemalige Entfremdung vom Festland unter japanischer Besetzung“ – für die Entfremdung sorgte in erster Linie die Kolonisierung Taiwans durch die KMT, spätestens im Februar 1947. „…die militärischen Eigeninteressen der Amerikaner“ – darüber sind sich die Taiwaner sehr wohl im Klaren. Nur, was ist so schlimm daran, wenn die Interessen der USA zur Abwechslung mal wieder dazu dienen können, etwas Gutes zu tun, in diesem Fall: eine Demokratie zu schützen? Man könnte sogar noch weitergehen und einen Satz von Marcel Reich-Ranicki zitieren, den er im Literarischen Quartett Nr. 6 vom 16. Juni 1989 bei der Besprechung von Klaus Manns Mephisto äußerte: „Mir ist egal, was für Motive derjenige hat, der mich rettet, wie mir eigentlich auch egal ist, was für Motive jener hat, der mich erdrosseln oder töten will.“
Taiwan ist in der Diskussion um die Positionierung der deutschen Sinologie kein bloßer Nebenaspekt, im Gegenteil: Es stellt, um es einmal pathetisch zu formulieren, jedem Sinologen die Gretchenfrage. Es bleibt zu hoffen, dass dies im weiteren Verlauf der Debatte berücksichtigt wird.
Literatur
Roderich Ptak / Ylva Monschein (Hrsg.): „Dossier – China als Drohkulisse“. In: Dorothee Schaab-Hanke (Hrsg.): minima sinica. Zeitschrift zum chinesischen Geist (Nr. 32 / 2020), S. 3-180.
Björn Alpermann / Gunter Schubert: „Gegen das moralische Kreuzrittertum“. In: FAZ, 09.03.2022.
Andreas Fulda / Mareike Ohlberg / David Missal / Horst Fabian / Sascha Klotzbücher: „Grenzenlos kompromissbereit?“. In: FAZ, 16.03.2022.
Fußnoten
- Neben Fulda sind als Verfasser genannt: Mareike Ohlberg, David Missal, Horst Fabian und Sascha Klotzbücher. ↑
- Alle folgenden Zahlen in Klammern beziehen sich auf dieses Dossier. ↑
- Fulda et al. erwähnen in ihrem Artikel kurz, dass Taiwan von China militärisch bedroht wird; Alpermann und Schubert dagegen sprechen lediglich von der „Taiwanfrage“ – ein Begriff, der wiederum insinuiert, dass der Inselstaat selbst in irgendeiner Form das Problem oder gar dessen Urheber sei. ↑
Dr. Thilo Diefenbach
Berlin
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